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Die Geschichte der Kindheit | Ganze Folge | Terra X

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Die Geschichte der Kindheit | Ganze Folge | Terra X

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644 segments

0:21

Für die einen ist es die schönste Zeit ihres Lebens...

0:32

für andere ist sie unerträglich.

0:37

Die Kindheit ist die Zeit, in der wir am meisten wachsen und lernen.

0:40

Bis in die Pubertät bilden sich Körper und Geist am stärksten aus.

0:44

Es ist die Zeit der Entdeckungen.

0:46

Kinder bewegen sich mit großen Augen durch die Welt.

0:50

Salvete! Salve!

0:55

Was ist Kindheit, und wie sah sie in der Geschichte der Menschheit aus?

1:00

Wer hat gearbeitet, wer gespielt und wer gelernt?

1:04

Und war Kindheit schon immer so,

1:06

wie man sie in der westlichen Welt von heute versteht?

1:11

Von vielen Vorstellungen,

1:12

die bislang das Denken über Kinder und Kindheit bestimmten,

1:16

müssen wir uns verabschieden, denn vieles war ganz anders.

1:34

Archäologische Funde geben Hinweise darauf,

1:36

wie Kinder in unterschiedlichen Epochen und Kulturen gelebt haben.

1:40

Aus dem Alten Ägypten ist überliefert,

1:42

dass sie schon vor 3500 Jahren Puppen besaßen,

1:46

aber auch andere zahlreiche Spielsachen.

1:53

Forscher haben Krokodile mit beweglichem Kiefer aus Holz entdeckt.

2:01

Oder kleine Bälle, überzogen mit Ziegenleder,

2:05

und sogar Gesellschaftsspiele aus Kalkstein.

2:10

Belege dafür, dass Kinder auch schon damals ihre eigene Welt hatten.

2:13

Kinder sind immer anders als Erwachsene gewesen.

2:16

Kinder sind ungestümer, unvermittelter.

2:20

Kinder nehmen die Welt anders wahr,

2:22

und Kinder agieren in der Welt anders, als es Erwachsene tun.

2:27

Sie nutzen andere Gegenstände,

2:29

andere Lebensräume, gehen anders mit ihrer Umgebung um.

2:31

Und genau das finden wir Archäologen in den Funden,

2:35

die uns in allen Epochen vom Leben der Kinder erzählen.

2:38

Die körperliche und geistige Entwicklung

2:42

ist bis heute unverändert: Säuglinge verdoppeln ihr Geburtsgewicht

2:45

in der Regel bis zum fünften Monat.

2:48

Ihr Gehirn wächst rasant und erreicht mit drei Jahren

2:51

eine Kapazität von 80 %.

2:57

Kleinkinder entwickeln Körperspannung, der Fettanteil sinkt.

3:01

Sie haben eine lebhafte Vorstellungskraft,

3:03

Fantasie und Wirklichkeit sind noch schwer zu unterscheiden.

3:11

Bis zum siebten Lebensjahr beherrschen Kinder

3:14

mehrere tausend Worte.

3:15

Sie lernen, Konflikte mit Eltern und anderen Kindern zu lösen.

3:20

Die Ängste nehmen zu, vor dem Monster im Schrank

3:24

und dem Krokodil unterm Bett.

3:29

Bis zum elften Lebensjahr wachsen Kinder stetig weiter.

3:33

Die Zähne brechen nach und nach durch und schmerzen.

3:36

Die soziale Entwicklung geht mit Riesenschritten voran.

3:40

Kinder wollen alles austesten.

3:43

Regeln und Ratschläge befolgen sie, oft jedenfalls.

3:49

Ab dem Teenie-Alter ändert sich das radikal.

3:51

Die Meinung der Eltern bewirkt meist genau das Gegenteil.

3:55

Kinder haben ihren eigenen Kopf, sie werden geschlechtsreif.

3:59

Sie schießen in die Höhe und blicken nicht selten auf die Eltern herab.

4:04

Das bekannteste Kind des Alten Ägypten, Tutanchamun,

4:11

ist noch vor der Pubertät, als es den Thron besteigt.

4:16

Der junge Pharao soll nur neun oder zehn Jahre alt gewesen sein.

4:20

Vermutlich hatte er sechs Geschwister und Halbgeschwister.

4:28

Auch die Fellachen, die ägyptischen Bauern,

4:30

haben in der Regel fünf bis sechs Kinder.

4:33

Diese Zahl bleibt in etwa gleich bis zum Ende der Antike,

4:36

jedenfalls bei den ärmeren Familien.

4:38

Die Bauern stellen mehr als die Hälfte der Bevölkerung.

4:42

Die meisten von ihnen leben am Nil, der Lebensader des Reiches.

4:46

Sein Wasser sorgt für Fruchtbarkeit und sichert den Lebensunterhalt.

4:53

Der Nachwuchs wird gebraucht.

4:55

Abbildungen in Gräbern um 2400 vor Christus zeigen Kinder,

5:00

die beim Fischen helfen, die Vögel aufscheuchen,

5:03

um die Papyruspflanzen zu schützen,

5:06

die den Vater auf dem Feld bei der Arbeit unterstützen.

5:11

Schon mit drei Jahren packen viele mit an.

5:15

Die Ägypter sorgen für ihre Kinder.

5:19

Regelmäßig wird den Jungen der Kopf geschoren.

5:22

Nur die Jugendlocke bleibt stehen. Den Mädchen werden Zöpfe geflochten.

5:26

Und nach der Geburt gibt die Mutter ihren Kindern

5:30

klangvolle Namen wie "die lang Ersehnte"

5:32

oder "der, den das Herz begehrt".

5:37

Das Alte Ägypten unterscheidet aber auch zwischen Arm und Reich.

5:40

Zur Schule gehen nur Kinder von Beamten, Priestern und Offizieren,

5:48

nicht der Nachwuchs der Fellachen oder Handwerker.

5:53

Das sind nur ein bis fünf Prozent der Bevölkerung

5:56

und fast ausschließlich Jungen.

6:00

Der Unterricht beginnt im Alter von fünf oder sechs

6:03

und dauert in der Regel zehn Jahre.

6:07

Merkt euch alles, so wie es geschrieben steht,

6:11

und zwar genau. Jawohl, Herr!

6:14

Auf dem Stundenplan stehen die wichtigsten Fächer der Hochkultur:

6:21

Lesen und Schreiben, Mathematik und Religion und Astronomie.

6:25

Geschrieben wird mit einem Griffel aus Binse oder Schilfrohr,

6:30

einem Wassertöpfchen und einer kleinen Palette mit Farben.

6:38

Einige wenige sind bis heute erhalten,

6:40

über 3000 Jahre alte Schreibutensilien.

6:43

Wie schwer die Hieroglyphen und die hieratische Schrift,

6:47

die Alltagsschrift zu erlernen waren, belegen Ausgrabungen von Archäologen.

6:52

Sie entdeckten Übungstafeln von Schülern,

6:55

die über und über mit Schreibfehlern gespickt sind.

6:58

Man kann sehen, dass Schüler zu allen Zeiten Fehler machen

7:04

und eben eine gewisse Erfahrung erst mal brauchen,

7:09

um Texte flüssig und korrekt schreiben zu können.

7:12

Das können wir an diesen Schultexten sehen.

7:14

Das unterscheidet die Kinder vom Alten Ägypten

7:16

und die Jugendlichen nicht von den heutigen Schülern.

7:19

Im antiken Griechenland hat die Kindheit keinen besonderen Wert.

7:25

Sie wird in Schriften als eine Zeit

7:27

menschlicher Unvollkommenheit charakterisiert.

7:34

Kinder werden von namhaften Philosophen des Landes

7:37

mit Tieren und Sklaven verglichen.

7:39

Wenn nötig, sei es auch angemessen, sich der eigenen Brut zu entledigen.

7:48

Selbst Aristoteles kennt keine Gnade.

7:51

Der berühmte griechische Gelehrte fordert sogar:

8:06

Auch in Sparta sieht man das so

8:10

und entledigt sich behinderter oder schwacher Kinder.

8:13

Dort fällen nicht die Eltern, sondern die Ältesten das Urteil.

8:18

Die Neugeborenen werden der Gerusia, dem Rat der Greise, vorgeführt.

8:24

Dort entscheiden allein Männer, allesamt über 60,

8:28

über das Schicksal eines Babys.

8:30

Die unerwünschten Kleinen sollen auf ihren Befehl hin

8:35

in einen Abgrund am Berg Taygetos geworfen worden sein.

8:38

So zumindest überliefert es später

8:41

der griechische Schriftsteller Plutarch.

8:43

Archäologische Belege kennen wir für Kindstötungen in Griechenland nicht.

8:48

Es mag sie gegeben haben,

8:51

es gibt Hinweise darauf in der Mythologie,

8:53

aber nicht im archäologischen Befund.

8:56

Es gibt das erste Mal in römischer Zeit so besondere Funde,

8:59

die uns, ja, etwas erschrecken lassen.

9:01

Mythen und religiöse Überlieferungen

9:05

sind grausame Zeugnisse von Urängsten der Vergangenheit.

9:08

So soll Abraham auf Geheiß Gottes seinen Sohn Isaak opfern.

9:12

Erst in letzter Minute wird das Kind gerettet.

9:17

Kronos, der Herrscher der Welt, frisst seine Kinder aus Angst,

9:20

sie könnten ihn um die Macht bringen.

9:22

Nur sein Sohn Zeus überlebt durch eine List seiner Mutter.

9:30

Der von Herodes angeordnete Kindsmord zu Bethlehem

9:33

soll den männlichen Nachwuchs ausrotten,

9:35

um so auch den König der Juden, Jesus von Nazareth, zu beseitigen.

9:39

In Sparta werden die Jungen, die als lebenswert gelten,

9:44

mit sieben Jahren von den Eltern getrennt und gedrillt.

9:46

(Mann) Los jetzt! Tempo! Tempo!

9:49

Sie müssen Hunger und Kälte ertragen,

9:53

laufen barfuß und werden bei Fehlern ausgepeitscht.

9:57

Mädchen dürfen höchstens im Ringkampf,

9:59

mit dem Speer und dem Diskus trainieren.

10:05

Die Jungen sollen später als Athleten für ihr Land antreten,

10:08

am besten bei den Olympischen Spielen,

10:10

oder als Krieger in den Kampf ziehen.

10:18

Ausbildung ist in ganz Griechenland weitgehend Privatsache.

10:21

Mädchen helfen im Haushalt und gehen in der Regel nicht zur Schule.

10:25

Anders die Knaben.

10:30

Sind sie aus gutem Hause, haben sie sogar einen Privatlehrer,

10:33

den sogenannten Paidagogos. Meist ein Sklave.

10:36

Er kontrolliert die Hausaufgaben und bringt Manieren bei.

10:40

Der Schüler muss gehorchen.

10:42

Trage dein Gewand ordentlich! Es hängt herunter!

10:47

Aber... - Schweige! Und mach, was ich dir sage.

10:51

Dem Paidagogos ist es sogar erlaubt, seinen Zögling auszupeitschen,

10:57

wenn der nicht spurt.

11:05

Mit der Zeit entsteht in Griechenland ein neues Ideal:

11:08

junge Männer, durchtrainiert und zugleich intellektuell gebildet.

11:15

Im sogenannten Gymnasion werden sie geschult

11:18

und auf ihr Leben vorbereitet. Sie treiben Sport und lernen kennen,

11:23

was Athen der Welt als kulturelles Erbe hinterlassen wird:

11:26

die Demokratie und die Welt verstehen durch Beobachten und Nachdenken.

11:34

Die großen Denker der Griechen, wie Sokrates und Platon,

11:37

haben den Grundstein dafür gelegt.

11:39

Ihr Wissen prägt nach und nach die Bildung in der Antike.

11:43

Es war durchaus üblich, dass Herrscher

11:47

berühmte Gelehrte, Philosophen an ihre Höfe geholt haben,

11:52

um den Nachwuchs auszubilden.

11:54

Einer von ihnen ist Aristoteles.

11:57

Er wird 343 vor Christus an den makedonischen Königshof gerufen,

12:02

um den Thronfolger Alexander,

12:04

später Alexander der Große, zu unterrichten.

12:07

Komm!

12:17

Du willst ewigen Ruhm?

12:23

Eine die Griechen!

12:25

Und führe sie gegen die Perser.

12:28

Das wäre fürwahr die Tat eines Helden.

12:35

Neben den klassischen Fächern lernt Alexander von Aristoteles

12:38

"das Wissen um die Natur". Lernt, genau zu beobachten

12:41

und nach Erklärungen zu suchen.

12:43

So wie bei seiner ersten Begegnung mit Bukephalos,

12:47

dem bekanntesten Pferd der Geschichte.

12:50

Vater! Ich kann ihn reiten!

12:53

Statt eines gestandenen Mannes, ausgerechnet du?

12:59

Von mir aus! - Hab keine Angst.

13:01

Du fürchtest dich vor deinem eigenen Schatten, nicht wahr?

13:06

Dreh dich!

13:14

Seht ihn euch an! Das ist mein Sohn!

13:19

Mein Junge, such dir ein passendes Königreich,

13:22

Makedonien ist zu klein für dich!

13:25

Und Alexander schafft es. Er dehnt das Reich bis nach Indien aus.

13:29

Doch nach seinem frühen Tod zerfällt das antike Griechenland.

13:37

Die Römer, die dann die Macht an sich reißen, übernehmen die Konzepte

13:41

von Bildung und Erziehung und bauen sie weiter aus.

13:43

In den ersten drei Jahrhunderten vor Christus

13:46

nimmt das Imperium hunderttausende Menschen als Sklaven mit nach Rom.

13:54

Die Unfreien kommen aus den eroberten Gebieten

13:56

und müssen für ihre neuen Herren arbeiten.

13:59

Die vielen Hochgebildeten unter ihnen verändern die römische Gesellschaft.

14:07

So übernehmen die Römer eine Zeremonie,

14:09

die bei den Griechen das Fest der Amphidromia hieß.

14:13

Dabei entscheidet der Vater am fünften oder sechsten Tag

14:19

nach der Geburt eines Kindes, ob er es annimmt oder nicht.

14:23

Jungen haben gute Chancen, sie zählen mehr als Mädchen.

14:28

Der männliche Nachwuchs tritt das Erbe an.

14:30

Mädchen hingegen kosten viel Geld: Wenn sie heiraten,

14:33

brauchen sie eine teure Mitgift.

14:38

Auch der Verdacht, das Kind könne von einem anderen stammen,

14:42

führt in Rom oft zur Ablehnung eines Neugeborenen.

14:49

Die Aufnahme in die Hausgemeinschaft

14:50

findet unter dem Schutz von Vesta statt,

14:53

der römischen Göttin von Heim und Herd.

14:58

Mögest du Teil unserer Familie sein,

15:01

deine Eltern ehren und unterstützen.

15:05

Lehnt ein Vater dagegen sein Kind ab,

15:10

wird es ausgesetzt oder sogar umgebracht.

15:12

Gründe dafür muss der Hausherr nicht vortragen.

15:15

Und eine Straftat ist das nach damaliger Gesetzgebung auch nicht.

15:25

Dass im Römischen Reich Kinder getötet wurden,

15:27

ist durch archäologische Funde belegt.

15:29

In der englischen Grafschaft Buckinghamshire

15:31

sind die Römer offensichtlich besonders grausam vorgegangen.

15:35

In der Nähe einer römischen Villa wurden Ausgrabungen

15:42

von vor 100 Jahren 2010 neu untersucht.

15:45

Das Ergebnis: 97 Skelette von Babys.

15:51

Forscher gehen davon aus, dass die Säuglinge

15:53

gleich nach der Geburt erdrosselt wurden.

15:56

Denn an den Knochen gibt es keine sichtbaren Spuren

15:59

von Gewalteinwirkung.

16:01

Eine These lautet, dass die Römer in der Villa in Buckinghamshire

16:06

ein Bordell unterhielten. Und dass die Babys

16:10

die ungewollten Kinder von Prostituierten waren,

16:12

die so aus der Welt geschafft wurden.

16:17

Eine andere Lösung für ungewollte Kinder war,

16:19

sie in ein Tuch zu wickeln und anonym am Tempel abzulegen.

16:23

Die Mütter überließen die Säuglinge einfach ihrem Schicksal.

16:32

Die Ausgesetzten konnte jeder mitnehmen

16:34

und als eigenes Kind aufziehen.

16:36

Die meisten Findelkinder erwartete eine düstere Zukunft:

16:40

sie endeten als Arbeitssklaven oder als Prostituierte.

16:52

Bildung ist auch in Rom eine Frage der Herkunft. Die Schule kostet Geld.

16:56

Zur Grundschule geht man von sieben bis elf Jahren.

16:59

Wer es sich leisten kann, besucht dann eine Grammatik-

17:01

oder sogar eine Rhetorikschule. Die Stunden beginnen sehr früh.

17:06

Der Unterricht ist streng frontal.

17:08

Salvete! - (Kinder) Salve!

17:08

Der Lehrer ist meist ein Sklave aus Athen,

17:15

die erste Sprache häufig Griechisch.

17:17

Sprecht mir nach!

17:19

Oida. - Oida. - Uden. - Uden. - Eidos. - Eidos.

17:31

Gut! Wir schreiben.

17:32

In einigen Zeilen, die Kinder verfassen,

17:35

lassen sie sich über die Schule aus und verwünschen ihren Lehrer.

17:38

Da heißt es: Wie der Donner schreie und prügele er plötzlich

17:42

in die Stille hinein.

17:43

Manches kann man auch nur mit Humor ertragen.

17:48

Wir denken an unsere Schulzeit zurück und all das,

17:52

was in den Heften stand.

17:53

Da gibt es keine großen Unterschiede.

17:58

Kinder aus einfachen Verhältnissen gehen nicht zur Schule.

18:01

Sie machen zwei Drittel der Bevölkerung aus.

18:04

Jungen arbeiten schon mit sechs, sieben Jahren in Werkstätten

18:07

und Geschäften, Mädchen müssen im Haushalt helfen

18:11

und sich auf die Hochzeit vorbereiten.

18:13

Sie heiraten früh, meist schon zwischen 12 und 16 Jahren.

18:20

Noch härter trifft es die Kindersklaven.

18:22

Als Nachwuchs von Unfreien sind sie abhängig vom Wohlwollen ihrer Herren.

18:28

Der Herr bestimmte, ob ein Sklave Kinder haben durfte.

18:33

Der Herr bestimmte dann auch, was mit diesen Kindern geschah,

18:37

ob er, der Sklave, das Kind behalten durfte,

18:41

welche Ausbildung das Kind erhalten hat,

18:45

zu welchen Arbeiten das Kind eingeteilt wurde.

18:49

Wir haben Kinder, die in den Silberminen schuften mussten.

18:53

Das waren unmenschliche Arbeitsbedingungen.

18:56

Kinderarbeit ist auch aus anderen frühen Kulturen bekannt.

19:01

In Hallstatt, im heutigen Österreich,

19:03

liegt das älteste Salzbergwerk der Welt.

19:06

Um 800 vor Christus

19:07

ist der Ort für sein "weißes Gold" in ganz Europa bekannt.

19:14

Um das Salz in großen Mengen abzubauen,

19:17

sind Väter, Mütter und Kinder unter Tage im Einsatz.

19:20

Das Salz wird mit einfachen Pickeln aus der Wand geschlagen.

19:30

Die Bedingungen sind extrem.

19:32

Die Stollen graben sich viele hundert Kilometer in den Berg.

19:35

Die Kinder arbeiten in Gruppen zusammen und essen sogar unter Tage.

19:42

Tageslicht sehen sie nur wenige Stunden.

19:45

Selbst Kleinkinder und Babys werden mit in den Stollen gebracht.

19:54

Im Naturhistorischen Museum in Wien lagern viele Schätze aus Hallstatt.

19:58

Das Salz hat die Alltagsgegenstände bestens konserviert.

20:02

Selbst die Fellmütze eines Säuglings ist erhalten, fast 3000 Jahre,

20:08

nachdem sie den kleinen Kopf vor Kälte und Staub geschützt hat.

20:18

Kinderschuhe aus Ziegenleder, Größe 31/32,

20:23

wurden ebenfalls im Salz geborgen.

20:25

Und auch die Reste von sogenannten Leuchtspänen.

20:28

Die vielen Leuchtspäne sind aus Tannenholz.

20:33

Die brennen nur, wenn man sie manipuliert und dreht.

20:36

Wir glauben, dass kleine Kinder mit zweieinhalb, drei Jahren

20:39

für das Lichtmachen im Stollen zuständig waren.

20:44

Danach beginnen die Kinder, Versorgungstätigkeiten zu machen,

20:47

sie schleppen schwere Lasten, Leuchtspäne, Werkzeuge,

20:50

Geräte, ins Bergwerk rein. Und wenn sie dann noch älter sind,

20:53

dann tragen sie den Abraum.

20:57

Das ist der erste Halswirbel von einer etwa Sechsjährigen,

21:00

der direkt am Kopfgelenk anschließt.

21:03

Und an diesem Halswirbel sieht man eben diese Veränderungen

21:06

einer beginnenden Arthrose.

21:10

Es sind viel zu frühe Abnutzungs- erscheinungen durch harte Arbeit.

21:13

Die Skelette wurden mit denen ihrer Familien

21:16

vor rund 150 Jahren in Hallstatt entdeckt.

21:21

Das ist eine der reichsten Gemeinschaften Europas,

21:24

die hier in diesem engen Tal sitzt, die europaweite Kontakte hat,

21:28

die mit dem Salz reich wird und trotzdem, obwohl sie so reich ist,

21:33

ab frühester Kindheit im Bergwerk arbeitet.

21:35

Erst die Spätantike bringt langsam mehr Schutz für Kinder.

21:40

Ein großer Schritt: 318 nach Christus lässt der römische Kaiser Konstantin

21:45

die Kindstötung unter schwere Strafe stellen.

21:53

Vorausgegangen war Konstantins Hinwendung zum Christentum,

21:56

die zu einer völlig neuen Betrachtung der Kindheit führte.

22:02

Die Bedeutung des Kindes als vollwertiger Mensch

22:05

und als eigenständiges Wesen ist etwas,

22:08

was dem Christentum immanent ist.

22:10

Wenn man sich vorstellt, dass der Erlöser als Baby geboren wird,

22:15

also, das Bild vom Christkind ist natürlich so prägend

22:18

in allen Bereichen, dass man damit sofort eine Wertschätzung

22:21

des neugeborenen Lebens verbindet. Und im Christentum ist

22:25

das Töten eines Menschen absolut untersagt.

22:27

Trotzdem haben es Kinder weiterhin schwer.

22:31

Im Mittelalter, vor allem in den armen Familien,

22:34

sind Kinder einfach überall dabei, laufen mit den Erwachsenen mit.

22:42

Es gibt keine Sonderbehandlung für sie, nur weil sie klein sind.

22:46

Die Eltern haben alle Hände voll zu tun,

22:49

um sich und den Nachwuchs durch die Jahre zu bringen.

22:52

Die Mehrzahl der Kinder lebte in abhängigen Familien, das heißt,

22:59

sie mussten sich ihren Unterhalt verdienen

23:00

durch harte Arbeit. Und Kinder

23:03

wurden in dem Sinne eingebunden in den Arbeitsalltag

23:08

als Bauern- oder Tagelöhner- oder Handwerker-Kinder.

23:14

Und insofern ist diese Bindung von Kindheit

23:18

an das Erwachsenenleben eine ganz entscheidende.

23:23

Veränderungen gibt es in der Säuglingspflege.

23:25

Babys sollen zwei Jahre lang gestillt werden.

23:28

Wer es sich leisten kann, beschäftigt sogar eine Amme.

23:31

Die Kleinen bekommen zusätzlich Wasser mit Honig

23:34

und gern auch einmal andere Getränke.

23:36

Herrin, darf ich dem Kind noch etwas Wein einflößen?

23:41

Es kommt nicht zur Ruhe.

23:43

Und reib es noch bitte mit Branntwein ein, das besänftigt.

23:46

Die Hebammen, die den jungen Müttern mit Rat und Tat zur Seite stehen,

23:51

sind schon damals der Meinung,

23:52

Säuglinge sollten nicht zu lange schreien.

23:55

Man glaubt, dass es im Mittelalter keine Idee gegeben hätte,

23:59

kein Konzept von Kindheit, und das stimmt nicht.

24:02

Also, wir wissen von Spielzeug, wir wissen davon,

24:07

dass die Menschen sich Gedanken gemacht haben,

24:09

wie es dem Kind möglichst gut gehen kann.

24:11

Das beginnt schon damit, dass nach der Geburt

24:14

das Kind möglichst sofort warmgehalten werden soll.

24:17

Und Wiegenlieder kommen in Mode.

24:20

Die älteste überlieferte Version stammt aus dem 14. Jahrhundert

24:24

und wird bis heute gesungen:

24:25

(singt) Joseph, lieber joseph min,

24:25

hilf mir wiegen min kindelin,

24:25

das got musse min loner sin

24:47

in himilreich, der meide kint Maria.

24:47

Die Babys der besser Betuchten schlafen nicht mehr im Elternbett,

24:52

sondern in eigenen Wiegen,

24:54

wie eine Abbildung aus dem 13. Jahrhundert zeigt.

24:57

Dabei werden die Kleinen wie Mumien eingewickelt.

25:00

Das Mittelalter betrachtet Kinder zwar als eigenständige Wesen,

25:06

allerdings seien sie bis zum siebten Lebensjahr noch "ohne Verstand".

25:10

Diese Phase der Kindheit heißt Infantia, kindisches Alter.

25:19

1234 soll Kaiser Friedrich II.

25:22

sein Interesse an der kindlichen Entwicklung

25:24

zu einem grausamen Versuch getrieben haben.

25:28

Der Herrscher ist auf der Suche nach der Ursprache der Menschheit:

25:31

ob Hebräisch, Griechisch, Latein oder Arabisch.

25:35

Dafür weist er Ammen an,

25:40

die ihnen anvertrauten Säuglinge zu versorgen und zu füttern,

25:43

sie aber nicht zu liebkosen oder mit ihnen zu sprechen.

25:47

Selbst wenn sie schreien, sollen die Ammen nichts unternehmen.

25:57

Mit dem Experiment an den Kindern will der Kaiser herausfinden,

26:03

ob die Kleinen überhaupt sprechen lernen, wenn sie isoliert sind

26:06

und ihnen niemand etwas vorspricht. Und falls ja,

26:09

welche Sprache sie im Lauf der Jahre entwickeln würden.

26:17

Das Experiment schlägt gründlich fehl,

26:20

das zumindest berichtet der Franziskaner Salimbene von Parma

26:23

rund 50 Jahre später in seiner "Chronik"

26:26

über Alltag und Mentalität in Italien.

26:34

"Alle Kinder starben, ausnahmslos", schreibt Salimbene.

26:38

"Ohne Zuwendung und Berührungen,

26:39

ohne Lächeln und Liebkosen ihrer Ammen und Pflegerinnen

26:43

vermochten sie nicht zu leben."

26:49

Wissenschaftler halten den Versuch für erfunden.

26:52

Doch selbst wenn er nicht stattgefunden hat,

26:55

zeigt schon allein die Behauptung,

26:56

wie aufmerksam damals die Entwicklung von Kindern beobachtet wurde.

27:01

Die Vorstellung, dass Kinder etwas in sich drin tragen,

27:05

was nicht durch Gesellschaft, durch die Eltern geprägt wird,

27:08

das ist etwas, was ja die Grundsatzfrage beantwortet,

27:12

was den Menschen zum Menschen macht. Ist es die Natur?

27:15

Ist es schon angelegt? Vielleicht die Gene? Vererbt?

27:18

Oder ist es die Sozialisation, die Gesellschaft, die Prägung?

27:22

Im Mittelalter ist mit sieben Jahren das "kindische Alter" vorbei,

27:27

selbst für den privilegierten Nachwuchs der Oberschicht.

27:30

Jungen besuchen in der Regel eine der Kloster- oder Domschulen,

27:34

die europaweit entstehen, auch in Regensburg.

27:42

Ziel ist es, die Kleinen zu frommen Menschen heranzuziehen,

27:45

die das Christentum in die Welt tragen.

27:48

Mädchen bleibt der Weg zu Bildung und Wissenschaft

27:52

weitgehend verschlossen.

27:53

Aus Regensburg ist ein Brauch überliefert,

27:58

den die Jungen geliebt haben: der Brauch des Kinderbischofs.

28:04

Es ist eine Umkehrung der Verhältnisse,

28:05

etwas, was man immer wieder im Neuen Testament findet,

28:11

den Hinweis von Jesus: "Schaut auf die Kinder!"

28:13

Und auf einmal ist es nicht mehr der Bischof, der geweiht ist,

28:17

der voller sakraler Würde steht, praktisch der Herrscher,

28:20

sondern für einen Tag kommt plötzlich ein Kind,

28:22

was keine Macht hat, in eine solche Situation hinein.

28:25

Das ist auch eine Möglichkeit,

28:27

mit einer so von Hierarchien geprägten Welt letztlich umzugehen

28:32

und Alternativen zuzulassen.

28:35

Einmal im Jahr ein Bischof sein, es ist ein lustiges Rollenspiel,

28:41

das die Buben auf die Zukunft vorbereiten soll.

28:44

Sie dürfen sich ausprobieren, mit der Macht spielen.

28:47

Der amtierende, erwachsene Bischof hat nichts zu sagen.

28:55

Und wie heißt es in der Heiligen Schrift bei Matthäus, 18?

29:05

Da rief er ein Kind herbei, stellte es in ihre Mitte und sagte:

29:09

"Das sage ich Euch, wenn Ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder,

29:13

dann könnt Ihr nicht in das Himmelreich kommen."

29:15

Ein Satz, den wir uns einprägen sollten.

29:20

Der Tag des Kinderbischofs findet meist an Nikolaus,

29:25

am ersten Weihnachtstag oder an Neujahr statt.

29:28

Allerdings eskaliert das Rollenspiel manchmal...

29:31

In Regensburg wird bald über blasphemische Handlungen geklagt

29:36

und über unwürdiges Geschrei. Das geht den Kirchenoberen zu weit.

29:40

Rom macht klar: Kinder als Bischöfe sind eine Amtsanmaßung.

29:48

Regensburg erhält 1249 ein Verbotsdekret direkt aus dem Vatikan.

29:53

Doch darüber setzt man sich einfach hinweg.

29:56

Noch mehr als 100 Jahre später sind die Tage der Kinderbischöfe

30:00

in Regensburg belegt.

30:06

Die Jungen, die in den Kloster- und Domschulen ausgebildet werden,

30:09

sind meist die Zweitgeborenen. Sie bleiben im Kloster,

30:13

werden Priester oder gehen in die bischöfliche Verwaltung.

30:16

Die Erstgeborenen werden zumeist Ritter und ziehen in die Schlacht.

30:23

Auch im 17. Jahrhundert führen Menschen Krieg.

30:26

Vor der Stadt Lützen findet eines der größten Gemetzel

30:30

des Dreißigjährigen Krieges statt.

30:31

Im Tross dabei: viele Kinder, manche sogar als Soldaten.

30:37

Mädchen und Jungen geraten in eine blutige Auseinandersetzung

30:40

um Religion und Macht, ein Alltag in ständiger Lebensgefahr.

30:49

Im November 1632

30:51

treffen bei Lützen Wallensteins kaiserliche Truppen

30:54

auf das protestantische Heer unter Gustav Adolf.

30:57

Mindestens 6500 Menschen sterben an einem einzigen Tag.

31:06

Ein Massengrab mit 47 Skeletten,

31:08

das Archäologen 2011 auf dem Schlachtfeld entdeckt haben, belegt:

31:12

Unter den Toten waren nicht nur junge Männer, sondern auch Jugendliche.

31:19

Wir können feststellen anhand dieser Toten,

31:24

die wir in Lützen gefunden haben:

31:26

Der Jüngste war zwischen 14 und 16 Jahre alt,

31:30

er war etwa 1,65 Meter groß,

31:33

war vergleichsweise gut genährt,

31:35

die Söldner waren eigentlich gut genährt,

31:38

sie nährten sich aus dem Lande, haben die Bauernhöfe geplündert

31:41

und überfallen, aber er hatte Mangelerscheinungen

31:44

aus der Kindheit.

31:48

Der Krieg hinterlässt Tausende von heimatlosen, herumirrenden Kindern.

31:52

Die Städte sind ausgebrannt, die Dörfer verwüstet,

31:55

die Äcker kahlgefegt, Hungersnot und Seuchen breiten sich aus.

32:02

Besonders auch, weil noch wenig über Hygiene

32:05

und medizinische Therapien bekannt ist.

32:07

Viele Kinder sterben am Schwarzen Tod,

32:10

an Diphterie, Röteln, Masern oder Pocken.

32:21

Kirchenchroniken zufolge erleben nur etwa ein Viertel aller Kinder

32:25

damals ihren ersten Geburtstag.

32:27

Kindersterblichkeit ist ein alltägliches Problem.

32:30

Familien, die alle ihre Kinder verlieren, trifft es besonders hart.

32:38

Die hohe Kindersterblichkeit zieht sich durch die Menschheitsgeschichte.

32:42

Rund die Hälfte aller Kinder stirbt vor der Pubertät,

32:45

die meisten als Babys oder Kleinkinder.

32:50

Dieser Anteil bleibt bis in die Aufklärung annähernd gleich.

32:54

Ab dem 18. Jahrhundert aber verändert sich die Sterblichkeitsrate.

33:04

Es sind Pioniere wie der walisische Landarzt Edward Jenner,

33:07

die versuchen, das Sterben von Kindern einzugrenzen.

33:11

Am 1. Juli 1796 unternimmt Jenner einen medizinischen Versuch,

33:18

der die Welt verändert: Der Sohn seines Gärtners,

33:22

der achtjährige James Phipps, ist der Proband.

33:25

Ah, der junge Phipps!

33:28

Komm rein! Sechs Wochen zuvor

33:31

hat der Arzt den Jungen mit Kuhpocken infiziert.

33:34

Komm! Sei nicht so zimperlich, das muss sein!

33:34

Und? Juckt's?

33:34

Es juckt. Hört es endlich mal auf?

33:46

Das gehört dazu.

33:48

James, ich ritz dich jetzt noch mal in den Arm. - Nein,

33:51

nein, nein! - Ein Mal noch, und dann ist es vorbei!

33:54

Aus heutiger Sicht, ein Skandal.

33:58

Der Vater von James ist ein Angestellter von Jenner,

34:01

ein Tagelöhner, also ganz klar ein Abhängigkeitsverhältnis.

34:06

Ethisch komplett verwerflich, aus heutiger Perspektive,

34:08

in damaliger Perspektive aber kein Problem.

34:11

Vergiss nicht, es ist ein Dienst an der Wissenschaft.

34:14

Mit der zweiten Impfung infiziert Jenner ihn

34:18

mit der menschlichen Variante der Pocken.

34:21

Ruhig!

34:24

Tinktur!

34:26

Mit seinem Versuch setzt Jenner das Leben des jungen Phipps aufs Spiel.

34:31

Doch die Pocken brechen damals in Wellen über Europa herein,

34:34

haben die Pest als schlimmste Krankheit abgelöst.

34:37

Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts sterben jährlich

34:40

etwa 10 % aller Kleinkinder.

34:49

Der kleine James Phipps hat Glück. Er überlebt das heikle Experiment,

34:53

er erkrankt nicht einmal.

35:00

Die Infektion mit Kuhpocken

35:01

hat ihn gegen die "echten Pocken" immunisiert.

35:11

Es ist eine Sternstunde der Medizin. Weitere werden folgen.

35:19

Edward Jenner schafft etwas,

35:21

was seitdem unsere Welt revolutionieren soll.

35:24

Impfstoffe herzustellen und für ganze Gesellschaften anzuwenden

35:28

und damit effektiv eine Krankheit, in diesem Fall die Pocken,

35:31

zurückzudrängen und sogar zum Aussterben zu bringen.

35:34

Es ist ein Durchbruch in der Behandlung von Kindern.

35:38

Jahrzehnte nach Jenners Experiment

35:41

findet ein neues Wort Einzug in die Literatur:

35:43

die Pädiatrie, die Kinderheilkunde.

35:50

In Europa geht die Kindersterblichkeit

35:52

ab Mitte des 19. Jahrhunderts rapide zurück.

35:56

Heute liegt sie deutlich unter einem Prozent.

36:02

Auch andere wagen den Aufbruch.

36:04

Auf Schloss Montmorency hat der Pädagoge Jean-Jaques Rousseau

36:07

in seinem Roman "Emile"

36:09

radikale Gedanken zum Umgang mit Kindern verfasst.

36:12

Deshalb muss er am 9. Juni 1762 fliehen.

36:16

Fahren Sie! Das Parlament hat einen Haftbefehl gegen Sie erlassen!

36:21

Schnell, die Gendarmen sind gleich hier!

36:23

Einen Haftbefehl für Zeilen,

36:26

die ihnen die Wahrheit vor Augen führen.

36:27

Die Herren mögen es einfältig.

36:30

Eines Tages, da werden sie den Emile verstehen!

36:36

Der Roman "Emile" ist erst wenige Tage zuvor erschienen.

36:40

Darin wendet sich Rousseau scharf gegen eine Erziehung,

36:43

die Kinder gängelt:

36:47

"Emile wird weder Fall-Hüte noch Laufkörbe,

36:50

noch Kinderwagen, noch Gängelbänder bekommen.

36:52

Man wird ihn täglich mitten auf eine Wiese führen.

36:55

Dort mag er laufen und sich lustig umhertummeln.

36:59

Meinetwegen mag er alle Tage 100 Mal dabei hinfallen,

37:02

das ist nur desto besser,

37:04

denn dadurch wird er umso eher wieder aufstehen lernen.

37:07

Das wohltuende Gefühl der Freiheit wiegt viele Wunden auf."

37:15

Rousseaus Gedanken-Experiment ist revolutionär.

37:21

Kinder sind von Natur aus gut und sollen sich frei entfalten.

37:25

Erwachsene sollen sie dabei nur unterstützen.

37:28

Seine eigenen fünf Kinder hat der Pädagoge allerdings

37:32

in ein Heim gegeben.

37:33

Die Grundidee von Rousseau ist bis heute entscheidend

37:37

für unsere Vorstellung von Kindheit. Also, so wünschen wir uns Kindheit.

37:41

Wir hätten gerne eine unschuldige, eine glückliche Kindheit,

37:47

die mit Natur verbunden ist.

37:49

Das Kind so als Kontrast zum...

37:52

beladenen Erwachsenenleben, wenn man so möchte.

37:56

Das hat auf jeden Fall 'ne ganz, ganz langfristige Wirkung gehabt.

38:03

Mit Rousseau ist die Kindheit der westlichen Welt erfunden.

38:06

Das Werk des französischen Gelehrten schlägt Wellen

38:08

und führt im 19. Jahrhundert in der Erziehung von Kindern

38:12

zu einer deutlichen Gegenreaktion.

38:19

Im 19. Jahrhundert hat sich vieles stark verändert.

38:22

Es ist vor allem das Bürgertum,

38:23

was Autorität übernimmt und sagt: "Wir wissen,

38:26

wie man Kinder zu erziehen hat!" Und das sieht man sehr stark

38:29

an praktischen Dingen, also zum Beispiel das Kinderzimmer.

38:33

Das Kinderzimmer ist wohnlich, warm und beheizbar.

38:37

Der Nachwuchs des Bürgertums hat ein eigenes Zimmer,

38:40

die Kleinen schlafen nicht bei den Eltern.

38:42

Eine "gute Kinderstube" nennt sich das.

38:50

Möbel für die Kleinen gibt es am Ende des 19. Jahrhunderts sogar in Serie:

38:55

Tische, Bänke, Hochstühle, selbst Schaukelstühle.

38:58

Auch eigene Kleidung wird für Kinder als Massenware angefertigt.

39:04

Vor allem der Matrosenanzug und das Faltenkleid sind gefragt.

39:08

Und vieles mehr.

39:10

Es gab sehr viel mehr eigene Materialien,

39:15

"Weltgeschichten für Kinder", "Atlanten für Kinder",

39:18

"Karten für Kinder". Es war 'ne Form von Marketing.

39:20

Kinder wurden da zum ersten Mal, glaub ich,

39:23

tatsächlich als Konsumenten und Konsumentinnen entdeckt.

39:26

Doch wie immer: Kinder aus ärmeren Familien müssen hart arbeiten.

39:31

Erst seit dem 19. Jahrhundert ist die Kinderarbeit

39:34

in der westlichen Welt immer weiter zurückgegangen.

39:42

Weltweit arbeiten heute über 150 Mio. Mädchen und Jungen,

39:46

fast jedes zehnte Kind, vor allem in Asien und Afrika.

39:50

Vielen wird ihre Kindheit genommen und das Recht,

39:54

sich zu entwickeln und zu lernen.

39:56

1904 tritt in Deutschland ein Kinderschutzgesetz in Kraft.

40:03

Es verbietet die Arbeit in Gewerbebetrieben

40:06

von Kindern unter 12 Jahren.

40:07

Und mit 14 sind sie "nur bedingt" strafmündig.

40:16

Seit 1919 müssen alle Kinder zur Schule gehen.

40:20

Noch bis in die 1970er Jahre dürfen Schüler geschlagen werden,

40:24

in Bayern sogar bis 1983.

40:27

Die Frage, was Kinder wirklich brauchen und lernen müssen,

40:35

beschäftigt nicht nur Eltern und Lehrer,

40:37

sondern die ganze Gesellschaft.

40:41

In den 1960er und -70er Jahren

40:44

werden besonders die traditions- reichen Schulen infrage gestellt.

40:48

Für viele beschränkt ihr System die Freiheiten von Kindern.

40:52

Andere pädagogische Ideen bekommen Auftrieb und Aufmerksamkeit,

41:00

wie das antiautoritäre Internat Summerhill an der englischen Küste.

41:04

Dort ist der Unterricht freiwillig.

41:09

Schüler haben genauso viel zu sagen wie Lehrer.

41:12

Der Schulbetrieb wird gemeinsam geregelt.

41:14

In den kommenden Jahrzehnten

41:16

entstehen immer neue pädagogische Ansätze und Schulformen.

41:22

Es gibt ja immer diese Erziehungsschulen,

41:25

die sich ständig ändern und immer die eine richtige,

41:29

die eine richtige Erziehungsnorm propagieren.

41:33

Also, in der Kindheitsgeschichte gibt es so zwei Ebenen,

41:37

die nicht völlig voneinander getrennt sind,

41:39

aber es ist gut, die auseinanderzuhalten.

41:42

Wie denken Erwachsene über Kinder?

41:46

Und wie leben Kinder dann wirklich?

41:47

Das zweite ist natürlich etwas, wo wir viel schwerer rankommen.

41:50

Alle Eltern wollen ihre Kinder fördern

41:54

so gut es geht, ihnen so viel mit auf den Weg geben wie möglich.

41:58

Sie sollen die Freiheit haben zu spielen,

42:00

zu lernen und sich zu entfalten.

42:03

Aber werden wir mit unseren Ansprüchen und Ideen

42:07

den Kindern gerecht?

42:08

Oder sind wir nur dabei, Kinder und Kindheit

42:12

nach unseren Wünschen zu perfektionieren?

42:17

Völlig klar, dass die Gegenwart für Kinder mehr Chancen bereithält,

42:21

als es in historischen Epochen zu vermuten ist.

42:25

Das ist das eine, das andere ist, dass die Tatsache,

42:29

dass es unseren Kindern heute besser geht,

42:32

kann nicht dazu führen zu behaupten,

42:35

in der Geschichte wäre alles dunkler und schlechter gewesen.

42:38

Biologisch verläuft die Kindheit heute noch immer so

42:41

wie vor Tausenden von Jahren.

42:43

Doch die Umstände, unter denen Kinder aufwachsen,

42:45

haben sich radikal verändert, weiterentwickelt.

42:51

In der westlichen Welt haben Kinder heute die Chance,

42:54

zu lernen und sich frei zu entfalten im Schutzraum Kindheit.

42:58

Viele schaffen es, diese Freiheit zu nutzen.

43:02

Untertitel im Auftrag des ZDF, 2022

Interactive Summary

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The video explores the concept of childhood throughout human history, highlighting how perceptions and realities of childhood have evolved. It contrasts the modern Western ideal of a protected, nurturing childhood with historical periods where children faced harsh realities, including child labor, infanticide, and limited educational opportunities. The narrative traces this evolution from ancient Egypt and Greece, through Roman times and the Middle Ages, to the Enlightenment and the modern era, emphasizing advancements in child welfare, education, and healthcare.

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